Reisen in Farbräume

Schlicht "Orte" hat Gabriele Vallentin ihre Ausstellung im Kunstverein March genannt. Doch wer nun wiedererkennbare Städte und Landschaften erwartet, wird enttäuscht, so einfach macht es die Malerin dem Betrachter dann doch nicht. Denn bis die konkreten Orte, vielfach Reiseziele von Gabriele Vallentin, in den Ort der Leinwand eingegangen sind, unterlaufen sie Verwandlungen.

Einer der Orte, der die Malerin zu Arbeiten inspirierte, ist Venedig. Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb der Philosoph und Soziologe Georg Simmel über die Stadt an der Lagune: "Die Monotonie aller venezianischen Rhythmen versagt uns die Aufrüttelungen und Anstöße, deren es für das Gefühl der vollen Wirklichkeit bedarf, und nähert uns dem Traum, in dem uns der Schein der Dinge umgibt, ohne die Dinge selbst." Im Verlauf des Essays wird die Stadt zum Sinnbild der Kunst überhaupt. Simmel gebraucht die Begriffe "Traum" und "Schein der Dinge", um die Kunst von der Realität abzusondern.

Wie kommt er darauf? Nun, die Stadt spiegelt sich im Wasser und schafft so ihr eigenes Abbild. Die Palazzi, Brücken und Stege setzen sich kopfüber im Wasser fort, der feste Boden wird zur Spiegelachse und erscheint so gleich ein bisschen weniger verlässlich. Die Materie kippt in ihr Spiegelbild, die Wirklichkeit verdoppelt sich im Traum. Aber erst in dieser Dualität wird Venedig zur Kunst. Wem würde da nicht zumindest ein wenig schwindelig werden.

Als ich Gabriele Vallentin in ihrem Atelier in Freiburg besuchte, habe ich mich wieder an diesen Aufsatz erinnert. Nicht allein wegen der Übereinstimmung der Orte, vor allem wegen der traumhaften Schwebe, in der sie durch ihre Farb- und Formwahl ihre Bildräume hält. Übergänge bestimmen gleich in mehrfacher Hinsicht die Bilder. Einerseits ist da die ganz sinnliche Raumerfahrung vor Ort. Wenn Gabriele Vallentin reist, ist der Aquarellblock samt Farben mit im Gepäck. Sie sauge die Atmosphäre des Ortes wie ein Schwamm auf, erzählt sie. Ölfässer, Anlegestellen der Gondeln, die orangefarbenen Kutten thailändischer Mönche, fremdartige Dächer, üppiges exotisches Grün: all das dürften Sie in ihren Skizzenbüchern finden. Und weiter, erzählt Gabriele Vallentin, sie reise vor allem in andere Farbräume. Der Aquarellblock dient ihr also als eine Art temporärer Speicher, in den die Wahrnehmung der Landschaft oder der Stadt einfließt. Das kann durchaus gegenständlich geschehen.

Und da ist andererseits die Abstraktion. Später im Atelier wird dann die Erfahrung formalisiert, eine inhaltliche Setzung vorgenommen. Wenn Sie vielleicht auch einmal im späten Winter in Paris waren, können Sie in "Paris 1" und "Paris 2" die Seine als stumpfgrüne Farbflächen erkennen, die von pastellfarbenen Quadern umsäumt werden, so wie der Fluss an zart-hellen Häuserfassaden vorbeirauscht. Neben die Auseinandersetzung mit dem Farbraum, der längst zu einem Erinnerungsraum geworden ist, tritt die mit der Form. Gabriele Vallentin hat für sich ein System geometrischer Formen gefunden, die sich gegenseitig stützen und abgrenzen. Die Dynamik liege in der Farbe, sagt Gabriele Vallentin, daher brauche es eine formale Beruhigung.

Dennoch empfindet sie den Malprozess als ein Arbeiten in die Offenheit hinein. Die Auseinandersetzung mit der Ferne, anderen Klimazonen, Vegetationen, anderen Kulturen wird nun in einer abstrakten Bildsprache geführt. Das Chaos, so sagt die Malerin, das sie wahrnimmt, wecke ihr Ordnungsbedürfnis. Man kann auch sagen, dass es Gabriele Vallentin gelingt, sich fremde Räume anzueignen, ohne dem Schwindel zu erliegen. Harmonie ist es, was wir als Betrachter vor allem wahrnehmen. "Der Schein der Dinge, ohne die Dinge selbst" ist Bild geworden, der konkrete Ort durch eine Innensicht ersetzt. Die Leinwand zur zweiten Haut geworden, würde die Malerin sagen.

Dieses Gleichgewicht, in dem Gabriele Vallentin die Farbräume zwischen Dynamik und Beruhigung hält, ist nicht nur das Ergebnis einer inneren, sondern auch einer malerischen Auseinandersetzung. Und beides ist nicht voneinander zu trennen.

Die weichen Übergänge, die ihre Werke bestimmen, können nur derart duftig werden, wenn Gabriele Vallentin zügig arbeitet. Ist der Untergrund zu trocken, werden die Ränder zu hart. Selbst in der Behandlung der Farbe setzt sich noch das Thema des Überganges fort, so mischt Gabriele Vallentin die Ölfarbe grundsätzlich, auch um den Ton häufig stumpfer werden zu lassen. „Die Farben eines Bildes sind für mich wie die Töne einer Komposition, sie sind alle aufeinander bezogen und brauchen teilweise feine Nuancen, um genau an der Stelle im Bild die 'Klangfarbe' anzunehmen, die sie im Gesamtgefüge benötigen", begründet die Malerin ihre Arbeitsweise. Während sie die Abstraktion als bewusste Zurücknahme einer eigenen Handschrift versteht, führt Gabriele Vallentin sie auf diesem Wege wieder ein.

Das ist nicht wenig, denn, um noch einmal Georg Simmel zu zitieren: "Nur der Kunst ist es in ihrem glücklichsten Augenblicke verliehen, in den Schein ein Sein aufzunehmen und dieses zugleich mit sich selbst zu bieten."

Tatsächlich sind die Übergänge in ihrer Malerei durchlässig. So kann es sein, dass Verlaufsspuren, die ansonsten so streng voneinander getrennten Vierecke und Quader miteinander verbinden oder dass wie aus einem Traum heraus große, verrostete Fässer oder die Pfähle der Gondeln in den Bildern auftauchen.

Anette Hoffmann. Einführungsrede zur Ausstellung "Orte" im Kunstverein March, 22.9.2006.