Farbe als elementares Gestaltungsmittel

Die Wahrheit der Erfahrung enthält stets den Bezug auf neue Erfahrung. Daher ist derjenige, den man erfahren nennt, nicht nur durch Erfahrungen zu einem solchen geworden, sondern auch für Erfahrungen offen... die Dialektik der Erfahrung hat ihre eigene Vollendung nicht in einem abschließenden Wissen, sondern in jener Offenheit für Erfahrung, die durch die Erfahrung selbst freigespielt wird.
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, 1975, S. 338

So betrachtet kann die Erkenntnis des Bildes, seiner Gedanken, auch im Modus der Erfahrung gewonnen werden und kann neue Erfahrungshorizonte im Betrachter aktualisieren. Man kann diesen Gedankengang als dialektischen Prozess verstehen. Der Maler, in diesem Fall die Malerin, lässt ihre Erfahrung im ästhetischen Umgang mit Farbe auf fruchtbaren Boden fallen und malt ein Bild, das im Betrachter wiederum verschiedene Bezüge und Sichtweisen wachrufen und neue Bezüge herstellen kann.

Das Bild als Spiegel der Gedanken, sowohl der Malerin als auch der Beschauer, Selbstreflexion und Reflexion im Wechsel.

Mehrfach waren für die Malerin Gabriele Vallentin, besonders im letzten Jahrzehnt, Reisen in exotische Länder und fremde Kulturen Auslöser für künstlerische Themen. Als Archiv dienten ihr dabei Fotos und vor Ort gemalte Aquarelle. Weit entfernt von erzählerischen Bildinhalten, von expressiv-großspurigen Gesten konzentrierte sie im nachhinein in ihrem Freiburger Atelier ihre neu erfahrenen Sinneseindrücke allein auf das essentielle Thema Farbe. Ein Abenteuer, das für sie immer bestimmender wurde, das sie in Bewegung hielt und zwangsläufig die Qualität ihrer Malerei ständig erweiterte.

Die für den vorliegenden Katalog ausgewählten Arbeiten stammen aus den letzten drei Jahren. In diesem Zeitraum inspirieren drei Reisen ihre Malerei zu drei Werkserien: "Tropic Sensations" (2008), "Maidan" (2009) und "Taonga" (2010).

Ihre eigene Wahrnehmung - abseits jeglicher touristischer Blicke – abstrahiert in diesen Jahren immer dichter, schärfer und tiefer ihre Seherfahrungen. Sie reflektiert den Schein aller Dinge aus ihren persönlichen Eindrücken und komponiert in ihrem Atelier großformatige Bilder von sublimer feinster Malerei. Dabei lassen die Farbklänge der "Tropic Sensations" im Betrachter etwas zum Klingen bringen, was die Intensität des mexikanischen Urwaldes widerspiegelt und was sich vielleicht mit Licht, Temperatur, Ton, Raum, Ort und Zeit umschreiben ließe. Die Unermesslichkeit der ungezähmten tropischen Natur bündelt Gabriele Vallentin in satten Grüntönen von einer Ausdehnung zwischen strahlend hell türkis bis bedrückend düster morastig. Einzig und allein durch Schichtungen von Farbe, die unter- und vorgelagerte Partien aufleuchten oder verschwinden lassen. Es ist pure Malerei im Dialog mit flächigen und transparenten Farbfeldern, die die sonnentrunkene Fülle in der feucht schwirrenden Luft der Tropen charakterisiert.

In ihrer Werkgruppe der "Maidan" abstrahiert Gabriele Vallentin ihre Farberinnerung an den Maidanplatz in Isfahan im Iran, an "die prächtigen türkis und dunkelblau leuchtenden Fliesenmosaiken in den beiden großen Moscheen, sowie die warmen, erdigen Rotbraun-Töne der Holzdecke im Ali Quapu-Torpalast", wie sie selbst ihre Eindrücke beschreibt. Man glaubt, Räume zu erleben, die sich mit Hilfe der Farbe auch atmosphärisch füllen.

Diese Bilder verströmen eine fast physisch spürbare Ästhetik, eine Ästhetik abseits von glatter schmeichelnder Dekoration, eher im Sinne vom sinnlich Wahrnehmbaren im Moment des spannungsvollen Gleichklangs, den wir als absolute Schönheit fixieren.

Die Idee der Taonga-Bilder geht auf das Jahr 2009 zurück und bezieht sich auf eine zweimonatige Reise in die Inselwelt zwischen Neuseeland und Französisch Polynesien. Taonga bedeutet in der Maori-Sprache soviel wie "ein wertvolles Vermächtnis". Die Malerin hat in 21 so betitelten Bildern, das, was es für sie zu bewahren gilt, also ihren persönlichen Erfahrungsschatz, in ihre Bildsprache übersetzt. Diese Bildserie beinhaltet faszinierende Farbklänge, wie sie so einmalig nur das Element Wasser im gleißenden Sonnenlicht der Lagunen hervorbringen kann oder eine im Umgang mit Farben erfahrene Künstlerin, die die tausendfachen Spiegelungen von Luft und Wasser, also den visuellen Befund dieses Naturphänomens, in ein scheinbar einfaches Farb-Form-Ordnungssystem transformiert. Bestimmend ist das Spiel der Farben in ihren weichen Übergängen, das fast wie Musik unsere Seele berührt. Und das in jedem Bild wieder aufs neue.

Man könnte an dieser Stelle behaupten, dass die Botschaften von langen Reisen, also die Erinnerung Hauptdarsteller in der Welt der Malerin ist. Doch Gabriele Vallentin bleibt offen in ihrer Malerei, auch und immer wieder vor allem sich selbst gegenüber. Ihre persönlichen Neigungen und Lösungen "versteifen" sich nicht. Wenn beeindruckende Reisen nicht stattfinden können, schöpft sie neue Experimentierlust in ihrem Atelier oder auf Spaziergängen in ihrer unmittelbaren Umgebung.

In ihrer jüngsten Werkgruppe der "Jahreszeiten" und "Himmelsbilder" von 2011 zeigt sich die Noblesse ihres Pinselauftrags neu. Es ist kein abrupter Abbruch und Neubeginn – dazu hat Gabriele Vallentin ihre inneren Reserven zu sicher angelegt. Eine bisher ungewohnte Hellräumigkeit wird offensichtlich, ein neues Lichterlebnis macht das Transzendierende sichtbar. Die klaren Begrenzungen der Farbfelder sind aufgehoben. Die Ränder bleiben unregelmäßig offen. Ihr Pinselduktus, der in den früheren Werkserien nach großen Reisen bewusst ausgelöscht war, drängt wieder in die Gestaltung und wird gezielt leicht und gelockert eingesetzt. Indem sie bewusst den Bildrand frei hält, können die Bilder an ihren Rändern ein- und ausatmen. Für den interessierten Betrachter wird das "Abenteuer Farbe" einsehbar und nachvollziehbar. Er hat die Möglichkeit, Einblicke in den malerischen Prozess zu gewinnen, eine Art Farbspurensicherung zu betreiben. Ihre Visionen von Herbst- und Winterstimmungen leben von dieser Offenheit. Die kompakte, deckende Konsistenz der Ölfarbe wird in mehrschichtigen Lasuren aufgelöst zugunsten leichter, luftiger "Farbkissen" von schwebendem Grau in oszillierenden feinsten Nuancen. Der Unendlichkeit des Naturraums entsprechend werden auch die Bildformate freier und größer. Aus der Fülle des Sehens und Erlebens heraus und als innere Folgerichtigkeit ihrer langjährigen Erfahrung als Malerin gelingt der Künstlerin Gabriele Vallentin mit diesen jüngsten Bildern eine neue optische Pointierung.

Damit erhält der Begriff der Erfahrung ein qualitativ neues Moment. Das ist jene Erfahrung, die sie sich über die Jahre selbst erworben hat und die zum Wesen ihres künstlerischen Denkens geworden ist.

Heide M. Roeder. art KARLSRUHE, 2012.