Am Puls der Farbe

Wie gerinnt das Leben zum Bild? Eine Frage, die mich seit jeher bewegt. Wer einen solch unmittelbaren Konnex von Biographie und Werk für bedenklich hält, erst recht angesichts der hochatmosphärischen, hochsensiblen Farbfeldmalerei von Gabriele Vallentin, wird gerade von dieser Malerin eines Besseren belehrt. Diese Bilder, deren einziger Gegenstand die vor unseren Augen changierenden Farben, genauer: der Farbklang zu sein scheint, diese leise schwebenden und anschwellenden chromatischen Rhythmen - sie haben tatsächlich einen motivischen Anlass. Denken wir uns etwa in einen sommerlichen Wald vor den "Toren" Londons: "Epping Forrest". Lassen wir vor unserem inneren Auge das Zusammenspiel seiner Farben entstehen: Das tiefe Ginster-Grün, das Violett der blühenden Erika, eine morastige Wiese. Und plötzlich ein Schmetterling, der sich unerwartet im Heidekraut niederlässt, einen frechen gelben Tupfer setzt ins bukolische Grün-Violett. Ein winziger Akzent nur, der ein ganzes Bild aufhellt.

Es sind solche Augenblicke vollkommener Lebensfülle, Momente des spontanen Glücks, die Gabriele Valentin malerische Anlässe bieten, ebenso wie Zeiten tiefer Versenkung: der anhaltende Blick über die geschachtelten Häuserkuben eines marokkanischen Dorfes, die Lichtbrechung in den bunten Glasfenstern des Topkapi-Palastes in Istanbul, eine Abendstimmung auf dem Meer vor Sardinien. Für uns mögen diese zumeist auf Reisen erlebten Initial-Momente in den Bildern unauffindbar sein, für die Malerin ist ein jedes ein prall gefüllter Erinnerungstresor, sinnlicher Nachklang jener intensiv erfahrenen Momente der Einheit von Innen und Außen, die ihr durch die im Bild konservierte Farberinnerung sofort abrufbar sind - und die auch uns, die wir nichts über sie wissen und nichts wissen müssen, spontan gefangen nehmen. Sie wirken auf uns ganz unmittelbar, emotional, bedürfen keiner Erzählung, erzählen selbst nicht das Geringste, sind pure Essenz. Keine erklärte Liebe zur Geometrie spricht sich in ihnen aus, vielmehr farbharmonische Bewegung, ein verhalten tänzerischer Gestus. Auch wenn uns ihr motivischer Ipmpuls zumeist verborgen bleibt - allenfalls im Titel scheint er bisweilen auf - nehmen wir doch in jedem dieser Bilder ganz unmittelbar teil am Leben und Fühlen der Gabriele Valentin. Wir haben es also - diese Feststellung erscheint mir wichtig - nicht nur mit konsequent gegenstandsfreier, sondern auch mit im klassischen Sinn abstrakter, abstrahierender Malerei zu tun. Und Abstraktion bedeutet für diese Malerin eben nicht ordnende Schematisierung, sondern Intensivierung der über Farben transportierten Gefühlswerte. Expression? Auch dies nicht eigentlich. Eher eine leise aber nachhaltige Verführung. Die Vibration dieser Bilder - um meinen synästhetischen Eindruck zu beschreiben, dieses leise Heraufdämmern der Farbe, ihr "Crescendo" - verdankt sich zum ersten einer Vielzahl an Lasuren, zum zweiten der Tatsache, dass hier unterschiedliche Pinselführungen übereinander liegen, zum dritten: dem Verwischen der Ränder. Sanfte Übergänge anstelle harter Kontraste. Und dann: der Farbe selbst. Nie kommt es ungemischt daher, dieses intensive Krapplack, dieses Magenta, dieses in dunkles Blau diffundierende Violett, diese Hautfarben und Ocker-Valenzen. Dieses durchdringende Türkis. Eine Vielzahl von Tonalitäten, feinsten Abstufungen. Komponiert zum harmonischen Zusammenklang. Ein sensibles Fluidum der Farben. Mitunter drängt sich eine Parallele zur Kochkunst auf. Die Menge der Zutaten stimmt. Zurück bleibt ein angenehmer Nachklang auf der Netzhaut.

Eine latente, vielfach durchbrochene Quadratur, ein Wechseln von vertikalen und horizontalen Feldern scheint vielen der Bilder, als unaufdringliche Ordnung, zugrunde zu liegen: Eine zarte Dialektik von Systematik und System-Auflösung bestimmt das gesamte Bildgeschehen, der Eindruck einer nebelhaft diffusen und dabei verdichteten Farbbewegung, wirkästhetisch durchaus vergleichbar mit dem, was den Farbfenstern eines Marc Rothko oder den Farbkissen eines Gotthard Graubner ihre Lebendigkeit verleiht: dies leichte Pulsieren. Es sind aber keine Schleier, die ein tiefenräumliches Dahinter, gar eine tiefere Sinnebene ikonenhaft verbergen oder suggierieren. Nichts mehr als bewegliche, mehr oder minder verdichtete Farbstaubphänomene, die quasi atmosphärische Quintessenz des Erlebten: Feinstoffliches, gehauchte Materie. So als bliebe, wie noch Aristoteles vermutete, ein Stäubchen von den affizierten Dingen auf der Netzhaut zurück. Werden wir konkreter. Um sich der Dichte der erlebten Augenblicke zu versichern, benutzt die Künstlerin die Kamera oder die Technik des Aquarells. Betrachten wir zunächst das Foto eines der farbigen Fenster im Topkapi-Serail am Goldenen Horn. Weniger die osmanische Rahmenornamentik als das dynamische Wesen des farbigen Lichts selbst scheint die Malerin an ihrer ölbildhaften Referent zu interessieren, nichts Fixes, vielmehr die Veränderlichkeit der Farbkraft im Wechsellicht. Eben jenes Pulsieren, das aus ab- und zunehmenden Helligkeitswerten entsteht.

Einen ornamentalen Vor-Wurf gibt es auch für die ungerahmte Serie "Marokkanische Fragmente" auf grobporigem Büttenpapier, von der einige Bilder im Küchenraum hängen - passender Weise, handelt es sich doch um Ansichten teils abgenutzter Bodenkacheln. Auch hier sind Ecken und Kanten vielfach "verschlissen" und der grobe Malgrund lässt im Verbund mit den matt leuchtenden Farben einen beinahe kulinarischen, zum Betasten animierenden Eindruck entstehen. Eine Materialsinnlichkeit, welche Gabriele Vallentin in sämtlichen Bildern anstrebt und beherrscht. Sie geht einher mit der Tendenz zur Formauflösung und den fließenden Übergängen. In dieser Reihe von Aquarellen nordafrikanischer Architekturen können wir diesen Drang zum Formvereinfachung- und Auflösung gut nachvollziehen. Am Ende steht dann mitunter die nur noch latent kubische Bewegung sich überlappender und durchdringender Farbfelder. In Vallentins neueren Arbeiten ist auch eine weitere Tendenz festzustellen: Ihr Hang, Bildränder auszusparen. "Open Spaces", nennt sie diese im Format und wie ich finde, auch qualitativ gewachsenen Bilder. Auch hier eine latente Zentrierung, zugleich eine Ausdehnung nach allen Seiten, die der Idee des "All-over" widerspricht. Auch hier werden bildräumliche Koordinaten angelegt, das heißt: Die Bewegung erfolgt keineswegs ungeordnet sondern aus dem Zentrum des Bildes - selbst dort, wo sich die Malerin der puren Monochromie nähert, in ihren so genannten "Miniaturen". In ihnen wird nun gerade umgekehrt der Rahmen, zumindest auf einer Seite farblich akzentuiert. Vor allem in ihren Großformaten zeigt sich Gabriele Valentins Vermögen, mittels zeitintensiver Lasuren delikate Farbakkorde anzustimmen, besser: herbei zu zaubern, denn das Zeug zum Verzaubern und zum Entrücken haben diese dezent schwingenden Farbinszenierungen ohnehin. Überlassen wir uns also getrost diesem gegenstandslosen Zauber und schauen wir, wohin er uns trägt. An die Ziele von Gabriele Vallentins wunderbaren Fernreisen wohl kaum. Aber weit genug - zum Glück!

Stefan Tolksdorf. Eröffnungsrede zur Ausstellung in der Galerie Meier Freiburg am 17.5.2013.